Es ist wieder soweit. Die Kinder bekommen ihren halbjährigen  Stempel aufgedrückt. Es gibt Zeugnisse. Mit Noten von 1 bis 6. Seit 1938 ist das so. Das erste nachgewiesene Zeugnis stammt aus Sachsen anno 1530, lerne ich. Damals soll es Semmeln als Belohnung gegeben haben. Wusstet Ihr, das Albert Einstein eine 6 in Mathe hatte? Stimmt wirklich, allerdings läuft in der Schweiz das Notensystem umgekehrt.
Nur wovon zeugen Zeugnisse bloß?  Ist ein mittelmäßig benoteter Schüler einer, der unheimlich clever aber stinkend faul ist? Oder völlig unterfordert? Jemand, der große Schwierigkeiten mit den Anforderungen hat und nachmittags zusätzlich ranklotzt? Jemand, der eigentlich wenig versteht, aber alles auswendig lernt? Jemand, der zu Hause 4 Geschwister und 2 Kinderzimmer hat. Oder 20 m² für sich allein. Der auf sich selbst gestellt ist, weil Eltern kaum zu Hause sind. Oder desinteressiert vor dem Fernseher sitzen. Ist es jemand, der Aufgaben allein erledigt oder der stets Mutti im Nacken weiß.  Jemand, der mit dem Lehrer nicht klar kommt oder in einer Schublade steckt. Oder jemand, der auch aus pädagogisch fragwürdigen Methoden das Beste für sich herausholen kann. Oder ist es jemand, dessen Talente in Schulfächern gar nicht zum Tragen kamen. Wer weiß. Und doch entscheiden Noten so oft über unsere Kinder, meist schon über die Möglichkeiten der Erstlaufbahn. Per Numerus Clausus, per Blick aufs Zeugnis.

Die interessantesten Lebensläufe verbergen sich sehr selten hinter den Überflieger-Abschlüssen. Empirisch  subjektiv ermittelt während über hundert Bewerbungsgesprächen in meinem Berufsalltag. Wer im Leben Klippen umschiffen musste, Niederlagen eingesteckt hat, sich selbst aus dem Morast gezogen hat, der ist reich an Erfahrungen. Wer mal eine Klausur versaut, weil er ein megacooles Freizeitprojekt durchgezogen hat, gewinnt an Organisationstalent. Wer sich nebenbei als Trainer oder Jugendleiter engagiert, weiß, was Teamgeist ist. Reift in Sozialkompetenz. Nichts ist deprimierender als junge Menschen, die es verlernt haben zu leben. Schule ist bei weitem nicht alles. Auch wenn es uns die Leistungsgesellschaft suggeriert.