Sonntag 18 Uhr. Tag der politischen Bildung. Wir schauen eine öffentlich-rechtliche Wahlsendung mit den ersten Hochrechnungen. Welche Partei hat welche Farbe, warum haben die Schwarzen so schlecht abgeschnitten, was sagt uns die bunte Torte. Auftrag an den Nachwuchs ist herauszufinden, wie es jeder Parteivertreter schafft, verbal trotzdem gewonnen zu haben und jeder zweiten Frage des Moderators mit einer Antwort zu begegnen, die nicht zur Frage passt. Schnell macht sich ein Grinsen im Gesicht meiner Tochter breit. Wäre doch nur die Sachtextanalyse kürzlich in Deutsch auch so lustig gewesen.
Dann wird es unerfreulich, denn die AFD-Vertreterin wird interviewt. Suggestivfragen, Unterstellungen, fragwürdiges Im-Raum-Stehen lassen – die Palette der Stilmittel unseriösen Journalismus‘ kann sich sehen lassen. Zu allem Unglück stolpern wir im Anschluss auch noch über einen Live-Mitschnitt der Hauptstadt-Demo in Dresden. Wir lassen die Bilder wirken. Die Augen der Kinder werden groß. Das ist Deutschland? Warum man das eigene Volk so unter Druck setzt und ob Demonstrieren denn nicht ein Grundrecht ist, will der Junior wissen. Wir hören „Frieden, Freiheit, Demokratie. Keine Diktatur. Wir sind das Volk.“ Natürlich auch manchen Spinner wie immer, aber weder Glatzköpfe noch rechten Fahnen. Sehen Provokationen durch einzelne Demonstranten wie auch Polizisten. Sehen, wie Pfefferspray harmloses Volk trifft. Später werden wir einen Pressebericht  über Verstöße, Provokationen und Ausschreitungen der „Die Pandemie ist vorbei!“ skandierenden Demonstranten lesen. Von Coronaleugnern, Rechtsradikalen und Holocaustrelativierern wird die Rede sein. Woran erkennt man eigentlich Letztere in der Menge? Aber richtig, irgendwo in der Masse werden sie sich tummeln. Genauso wie Thermomixbesitzer, Schattenparker und Nixblicker.
Wir suchen nach einem Videobeweis für die Vorbei-Pandemie. Okay, 100 Leute waren auf dem Weg zum Impfzentrum, dass man vorsorglich mit Wasserwerfern schützte. 100 von 4000 bis 5000. Nun ja, so verschieden können Blickwinkel sein. Mein eigener sagt mir, dass es deutlich schlauer wäre, mit Maske und Abstand zu protestieren. Wieviel Tausende würden sich dann wohl noch anschließen. Wenn Pressefreiheit einschließt, einseitig zu berichten und Menschen zu stigmatisieren, ist in einem freiheitlichen Land eine sensible Grenze ganz gewaltig überschritten.
Liebe Demokratie! Halte durch! Sieh es uns nach, wenn wir Dich gerade ein wenig mit Füßen treten. Wenn wir den anteiligen Willen des Volkes ausgrenzen und verspotten. Wir haben es noch nicht ganz verstanden, dass Gleichberechtigung und freie Meinungsäußerung für alle gilt. Ob uns die Meinung nun passt oder nicht. Wir verbieten Demonstrationen unter Polizeigewalt, weil sich Teilnehmer voraussichtlich nicht an die vorherrschende Meinung anpassen. Andere abstandslose Kundgebungen tolerieren wir, weil es uns in den Kram passt. Wir wissen, liebe Demokratie, dass Du Schwächen für Populismus hast. Leider bedienen wir diese gern, in dem wir uns mit Einzelmeinungen umgeben und den wissenschaftlichen Diskurs unterbinden. Was machen wir nur mit Dir, wenn das Wahlergebnis nicht mehr stimmt?

Disclaimer: Sie lasen einen Beitrag eines erklärten Nicht-AfD-Wählers, Nicht-Coronaleugners, Nicht-Impfgegners. Hab ich was vergessen? Ach ja, eines Nicht-Verschwörungstheoretikers und auch Nicht-Aluhutbesitzers – schon gar nicht Holocaustrelativierers.